WEGHAFTES. ARCHITEKTUR UND LITERATUR




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/ EINFÜHRUNG -
Vorwort des Herausgebers/


15.11.1963. Die Arbeitspartie der in schalreinem Beton erstellten Feuertreppe des 19 geschossigen Studentenhochhauses am Hafnerriegel in Graz ritzt, nachdem sie das risikoreiche Werk in 50 Meter Höhe vollendet hat, mit dem Finger das Datum in den erhärtenden Beton ein. Ein Gipfelsieg der unspektakulären Art. Und dennoch, ein emotionales Ereignis - stellvertretend für alle Beteiligten am Bau - und zugleich elementar im Akt der Präsenz. In analoger Weise setzten die Schriftsteller der "Braunen Büchel", der Werkgruppe-Lyrik-Reihe, ihre bewegte Signatur auf den Einband der Edition, um die Handreichung authentisch zu gestalten. Es war ein Prinzip der von den Architekten der Werkgruppe Graz von 1966 - 1996 herausgegebenen Reihe moderner Lyrik, auf dem anspruchslosen Packpapier-Druck den Atem der Erstveröffentlichung auch spürbar zu machen.

Architektur und Literatur in Beziehung zu setzen ist die Absicht des Werkbuches. Wie wir es als selbstgewählten Auftrag pflegten. Nicht Architektur aus sich zu erklären, obgleich jedes Werk seine Geschichte hat. Ebenso wenig Literatur, im Konkreten lyrische Sprachflüsse, aus ihren Regeln und Anlässen zu deuten. Beide Äußerungen heben sich als `Figur` vor einem `Hintergrund` ab. Sie werden zu Wahrnehmungsgehalten mit unterschiedlicher Signifikanz. Beiden gemeinsam jedoch ist die `Signatur`, die für das Ganze des Autors steht. In ihr bekundet er als Schlusspunkt einer Werkentstehung seine Identität, tauscht sich gegen das Werk aus. In der Verdichtung des Namens - den schon ein Kind im Fingerzeig auf sich selbst vorwegnimmt - rückt die Zeit zusammen, wird ein Ende zum Anfang. Wenn nach 30- jähriger architektonischer Gestaltungstätigkeit der Werkgruppe ein selektiver Werkkatalog vorgelegt wird - Meister Pilgram blinzelt hervor - mögen die Impulse freigelegt werden, die sich in der Sprache des Architekten äußern. Sie ist verständlich aus den Wurzeln, aus denen sie entstanden ist, bleibt aber problematisch im jeweils neuen Moment der Rezeption. Dessen bewusst, sei ein grundsätzliches Problem angesprochen, das Architektur und Literatur in ihrer Unterschiedlichkeit aufwirft: "Kann die eine der Kunstäußerungen zum Verständnis der anderen hilfreich sein oder bleibt dies Illusion? Vielleicht lassen sich Kristallisationspunkte auffinden, die über einen Zeithorizont hinauswachsen und auf einen schillernden Urgrund zurückführen.

"Gegenliebe" nennt Alfred Kolleritsch einen Text, der in autobiografischen Zügen sein empfindliches Verhältnis zu Graz aufzeigt. Einem "Gegenraum" begegnet auch der Begeher der gotischen Grazer Doppelwendeltreppe in der Burg, indem er nach eindeutigem Antritt in die Vieldeutigkeit eines doppelten Laufes gelockt wird, um auf Podesthöhe nach einem Umlauf wieder in die Bestimmtheit des Anfangs zu münden. Hier nun kann es ihm passieren, dass er einem Zweiten begegnet, der ihm den Tritt streitig macht. Und gerade da vermag er das Problem zu lösen, indem er sich in einer fortgesetzten Achterschleife wieder der heilsamen Unbestimmtheit anvertraut, die ihn am folgerichtigen Weg auf das oberste Podest führt, auf dem Ankunft empfunden wird. Gleichzeitig kann er vereint mit seinem Partner in die Tiefe blicken, um das Rätsel zu durchschauen. Ein Wegerlebnis ist zustande gekommen, indem Phasen des Aufstieges erfahren wurden, die sich in der Überwindung von Hindernissen zeigten. Unbezweifelbar vermittelt die Doppelhelix der Grazer Treppe ein archetypisches Raumerleben, das jeder Architektur eigen ist. Eben deshalb, weil es ein Stück Lebensweg darstellt, spannend und befreiend zugleich.

Der Aufbau des Buches ist dreiteilig: Am Anfang steht eine morphologische Annäherung von Architektur und Literatur, die sich des Vergleiches bedient, um Kontradiktionen und Übereinstimmungen auszuloten. Ihm folgt eine Auseinandersetzung mit der historischen Situation im Graz der Sechzigerjahre, die hinreichend Antriebe bot für konzeptuelle Entwürfe und im `Forum Stadtpark` einen Kern künstlerischer Auseinandersetzung hervorbrachte. Aus dieser Situation der Grenzüberschreitung sind auch die architektonischen und literarischen Parallelen zu erklären, da sie in der Zusammengehörigkeit der Gruppe keimten.
Schließlich widmet sich der dritte Teil, als Hauptteil aufgefasst, ausgewählten Arbeiten der Werkgruppe Graz als "weghafte" Versuche, die vor dem Hintergrund einer konkreten Aufgabe ein Prinzip deutlich machen wollen, das einem Entwurfsprozess elementar innewohnt, "das Umkehrprinzip". Aus der Umkehr, dem Erstaunen und Anvertrauen dem Unbestimmten ein Prinzip zu machen ? Das wäre zu einfach ! Und dennoch, es drängt uns, ein "Haus der Worte" bauen zu wollen. Alles ist darauf gerichtet, mit Wörtern, Begriffen, Funktionen, Regeln, notwendigen Raumbefriedigungen umzugehen. Aber wir sehnen uns nach dem Gegenraum der Poesie. Nach einer Zwischenzeit, in die wir das Lächeln einer beglückenden Begegnung mitnehmen in die Stille des unendlichen Horizontes, der vor uns aufleuchtet. An Orte zu gelangen, die uns berühren, Räume erfahren, die uns einhüllen. Befriedigung erfahren. An den Ursprung zurückkehren.

Diesen Gegenraum der Poesie kann man nur betreten, wenn man Schritte setzt, den Weg in Zeitschritten bewusst geht und jedem Hindernis die Kraft der Überwindung abringt. Architektur als Lebensweg, ein Ausgehen und ein Heimkommen. Im produktiven Entwerfen wie im aktiven Erleben erschließt sich dieser Raum. Letztlich ist es doch ein Prinzip, der Idee der Erneuerung mehr Glauben zu schenken als der scheinbaren Zwangsläufigkeit. Umkehr.

Damit kann man beginnen, indem man das Buch von rückwärts nach vorne liest.

Mit dem vorliegenden Werkbuch wollen wir Rechenschaft über unsere Arbeit ablegen. Darüber hinaus aber ist uns am Wege unserer Arbeiten ein "Umkehrprinzip" begegnet, das für sich Geltung verlangte, weil es uns immer wieder an den Anfang zurückgeholt hat. Dieser aber ist reine Poesie.

Eugen Gross, Friedrich Groß - Rannsbach, Werner Hollomey, Hermann Pichler

 
1.0 / Markus Jaroschka: "Über Wörter und Worte" /
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"Signatur" 15.11.1963
Studentenhochhaus am
Hafnerriegel Graz

Studentenhochhaus am
Hafnerriegel Graz

Die "Braunen Büchel"