WERKGRUPPE
GRAZ
4.0. / / ARCHITEKTUR UND LITERATUR - eine morphologische Annäherung / |
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EG: In dem Buch "Poetik der Grenze" (1)
von Markus Jaroschka und Dzevad Karahasan schreibt der slowenische Dichter
Uros Zupan "Dichtung ist die visionärste aller Künste".
Er meint, dass in der Dichtung ein Dämon die Hand des Dichters führt
und ihm damit ein neues Land erschließt. Die Architektur scheint
eher diesseits jener Grenze zu liegen, da sie im gleißenden Licht
der Gegenwart sich allzu nüchtern darbietet, gesellschaftlich vielen
Bindungen ausgesetzt und von unzähligen Hemmnissen gezeichnet. Dieses
gilt sowohl für ihr Zustandekommen als auch ihre Akzeptanz in der
Öffentlichkeit. Hinter ihr steht offensichtlich kein hilfreicher
Dämon, und wenn schon einer, dann eher ein böser. Hast du ein
Problem mit der Architektur ?
AK: Ich glaube, man müsste, um sachgerecht zu reden, die Dinge trotz
ihrer unterschiedlichen Bedingungen auf einen Punkt zurückführen,
wo sowohl Dichten als auch Bauen, oder wenn man so will, Denken, einfach
Notwendigkeiten sind. Es ist immer wieder von den Dichtern behauptet worden,
dass die ursprünglichste Kunst die Dichtung sei, da sie die "Behausung"
des Menschen schlechthin darstelle. Ich zitiere dazu Martin Heidegger:
" Die Sprache ist das Haus des Seins überhaupt". Von dort
gehen andere Bewältigungen des menschlichen Daseins aus, wie beispielsweise
in der Musik Räume installiert werden. Es geht immer um die Beherrschung
des Raumes, des unendlichen Raumes, des Wohnraumes. Mit der Sprache gliedert
sich etwas, strukturiert sich ein Sachverhalt, wird Bedeutung aussagbar.
Die "Kritik der Reinen Vernunft" von Emmanuel Kant kann als
Bauplan angesehen werden, der zeigt, wie ein Weltverständnis zustandekommt.
Es berührt den alten Streit in der Philosophie bis zurück auf
Platon, wo die Höhle eine Rolle spielt, ob man im Denken eines weiteren
Deckraumes bedarf, in den man hineingehen kann und umfangen wird. Und
gerade da ist es seit jeher die unverzichtbare Aufgabe der Architektur,
unter Aufbietung verschiedener Materialien sichtbar zu machen, wie der
Mensch auf dieser Welt Aufenthalt nimmt und sich für diesen Aufenthalt
einrichtet. Das gilt von den einfachsten Höhlenwohnungen bis zu Hütten
und Häusern, wo der Mensch demonstrativ auf sein Wohnen hinweist
und in der Unendlichkeit, der Unfassbarkeit des Weltraumes über uns,
sich seine Räume schafft.
Nur ist es kein bloßes Raumschaffen im Sinne einer Abgrenzung eines
Innen- von einem Außenraum. Man muss nur in eine riesige Hallenkirche
gehen, da erleben wir zwei verschiedene Räume. Solche Räume
versammeln gleichsam in sich eine Botschaft. Es geht nicht um ein Aufrichten
von Materie, da wird Himmel und Erde eingesammelt in dem Raum, der gebaut
wird. In diesem Raum wohnt der Mensch, ob es sich nun um eine Heimstätte
handelt oder eine Kirche, wo der Mensch in Verbindung mit dem Göttlichen,
wie immer man es nennen mag, ist. So glaube ich, dass die Architektur
ebenso wie die Dichtung letztendlich gleich ursprünglich ist und
den großen Raum einfängt in vielen Räumen, die die Welt
bewohnbar machen.
Wenn Goethes`s Faust ausspricht, dass der "strebende Mensch unbehaust
ist", so muss man das ganz ernst nehmen. Der eine sucht seine Behausung
eben in der Dichtung, der andere erfüllt den leeren Raum mit Klang
und die Architektur demonstriert, wahrscheinlich am auffälligsten,
die Beherrschung des unendlichen Raumes und schafft das "Wohnen".
Ich beziehe mich mit ihm übereinstimmend auf Martin Heideggers Aufsatz
"Bauen, Wohnen, Denken", in dem diese Einheit dargelegt wird.
Man kann selbstverständlich Rangordnungen schaffen, aber im Grunde
gehören alle künstlerischen Äußerungen zusammen,
sind nicht voneinander zu trennen, bleiben Bemühungen, sich im Dasein
einzurichten mit der Kraft des Geistes und der Phantasie vor dem Horizont
des Endlichen.
Man kann ja zurückgehen bis auf die Funktion des Wohnens bei den
Tieren, die auch den großen Raum nützen, um darin ihre Lebensbedürfnisse
befriedigen. Beim Menschen kommt noch dieses "Zusammensein"
dazu, das ihn in seiner Vergesellschaftung veranlasst, dem Hinschwindenden
Dauer geben zu wollen. Architektur kann in ihrer bedeutungsvollen Sprache
dem "logos", der schöpferischen Idee, in der Zeit Gestalt
geben. Die Architektur ist dauerhaft, bleibt sichtbar.
EG: Wenn Architektur diejenige Kunst ist, die Dauer sichtbar macht, wie
steht es dann mit temporären Bauten hohen architektonischen Anspruchs,
beispielsweise Leistungen einer auf Leichtigkeit und Transparenz gerichteten
Ingenieurbaukunst ? Schließlich haben nomadische Kulturen auch solche
anzuerkennende Leistungen erbracht. Da sich unsere mobile Gesellschaft
in neuen Technologien und Materialien mit als Provisorium herausgestelltem
Charakter manifestiert, können wir dann noch von Architektur im klassischen
Sinn sprechen?
AK: Sicher nicht im klassischen Sinn, aber von Architektur als Heimatsuche.
Der Begriff der Heimat erfährt Wandlungen, aber immer noch bleiben
die Orte, die mit unseren Grenzerfahrungen wie Geburt, Reife, Partnerschaft,
Sehnsuchtserfüllung und Tod verbunden sind, Heimaterfahrungen. Unsere
abendländische Kultur hat seit Aristoteles das Heimatschaffen in
den Vordergrund gerückt, indem der Mensch derjenige ist, der etwas
hervorbringt und dauernde Gebilde schafft. Seine Ableitung der causa materialis-der
Stoff, der causa formalis-die Formgebung, der causa effiziens-der Schaffensakt
mündet in der causa finalis, dem hervorgebrachten Werk. Im Grunde
beruht Aristoteles` Philosophie auf dem Handwerk. Dieses Werk, auf die
Architektur bezogen, ist das Haus unter dem Himmel, gleichwohl, ob es
als Suche oder Schaffen von Heimat zustande kommt. Wenn es unseren Lebensvollzügen
eine Heimstatt gibt, erfüllt er ein elementares Bedürfnis des
Menschen.
EG: In dem anfangs zitierten Buch fand ich den Satz. " Die Dichtung
schmuggelt in unsichtbaren Gefäßen den Kern des Menschen über
die Grenze." Da finden wir die Idee des Gefäßes, die offenbar
für die Dichtung wie für die Architektur signifikant ist. Nicht
nur, dass Gefäße für unsere Nahrungsaufnahme lebenswichtig
sind und in früher Zeit auch der Bestattung des Leibes dienten, können
wir auch im Haus das Gefäß des Lebens sehen. Es spiegelt unsere
Lebenszyklen, Tag und Nacht, Winter und Sommer, Aktivität und Passivität,
überschäumende Lebensfreude und sich verschließende Traurigkeit.
Architektur ist die Hülle, die mit uns atmet und pulsiert, wie von
einer dritten Haut gesprochen wurde.
AK: Man kann das Gedicht auch als Gefäß sehen. Es hat lange
Zeit die Prosa weniger Funktion gehabt als das in die Form Gegossene,
die Dichtung. Es ist das, was heute die Dämonen bereithalten, eben
die Eingebung. Neben den Praktikern, die sich durchsetzen, hören
die anderen die Stimmen, die den Weg weisen. Ihnen tut es gut zuzuhören.
Und zuzuschauen, wie sie aus Nichts und "für nix" ein Werk
schaffen. Am Gefäß veranschaulichte Lao Tse, dass das Wesen
des Raumes die Leere ist.
EG: Zurückkommend auf den Gedanken, dass die Sprache das erste Haus
ist, nehme ich Bezug auf Friedrich Weinreb`s "Der göttliche
Bauplan der Welt" (2), der sich dem Menschen in seinen aufmerksamen
Wachträumen erschließt. Vom einfachsten Werkzeug, über
die stillen Orte des Wohnens bis zu den wagemutigsten Konstruktionen ist
er uns zugänglich. Allerdings müssen wir ihn nachvollziehen
nach den uns gegebenen Möglichkeiten. In welchem Maße können
wir im Zusammenfügen von Sätzen und Bausteinen eine Poesie erkennen?
AK: Man muss die ganze Menschheitsgeschichte mit einbeziehen. Das gilt
von Anfang an, indem der Mensch sich Welten erbaute. Immer muss man den
Prozess des Entstehens mitdenken, wenn man sich mit einem Werk befasst.
Dem Künstler fällt es zu, jenes Einrichten in der Welt nicht
nur im abstrakten Raum zu vollziehen, sondern mit Sinnlichkeit auszustatten.
Jener "Kern" des Menschen, den der Dichter über die Grenze
der Sichtbarmachung schmuggelt, ist sein umfassendes sinnliches Potential,
das zur Bedeutung ruft. Das gilt für den Poeten wie den Architekten.
Zu Alfred Kolleritsch, langjährigem
Vorsitzenden des Forum Stadtpark, besteht seit den Gründungstagen
des Forum eine enge Freundschaft. Als Herausgeber der "manuscripte"
hat er nicht nur zahlreichen Literaten den Weg bereitet, sondern auch
den bildenden Künstlern und Architekten eine Plattform zur Selbstdarstellung
geboten. Im Forum hat sich erstmals eine Künstlergruppe zusammengefunden,
die das Gespräch zwischen Literaten, Malern, Bildhauern, Fotokünstlern,
Medienfachleuten und Architekten in Verfolgung einer gemeinsamen Programmatik
suchte. Das Gespräch mit dem Dichter Alfred Kolleritsch will diesen
Spuren nachgehen.
(1) "Poetik der Grenze", - Über die Grenzen sprechen
- Literarische Brücken für Europa, Hrsg. Dzevad Karahazan
und Markus Jaroschka, Steirische Verlagsgesellschaft, Graz 2003
(2) Friedrich Weinreb, "Der göttliche Bauplan der Welt",
Der Sinn der Bibel nach der ältesten jüdischen Überlieferung,
Origo Verlag Bern, 1978
Der Titel ist absichtlich Architektur und Dichtung
und nicht Architektur und Sprache. Ich habe mich immer gewehrt, Architektur
und Dichtung in Beziehung zu bringen. Eine Art Notwehr. Zwischen Architektur
und Sprache gibt es sicher Analogien, eher in der Rezeption als in der
Konzeption. Architektur kann mit genügender kultureller (formaler,
ornamentaler) Anreicherung narrativ sein, ein Gedicht kann als Konstellation
von Wörtern, wie die Architektur auf sich selbst verweisen. Wir behaupten,
dass ein Gedicht gut gebaut ist und der Begriff Satzbau ist geläufig.
Architekturen und Sprachen haben Regeln, Grammatiken, Vokabeln, die nur
in ganz bestimmten Verhältnissen zueinander etwas bedeuten. Trotzdem:
Architektur ist nicht Sprache und Sprache ist nicht Architektur. Man kann
bei den Sprachen die Kommunikation und bei den Architekturen ihre praktische
Leistung überbewerten. Sprechen und Bauen. Und man kann die Dichtung
als den artifiziellen Umgang mit der Sprache bezeichnen (Wahrnehmung als
Genuss, als Droge) oder die Architektur als kulturelle Mitteilung.
Natürlich kann man alles mit allem vergleichen und da Dichtung und
Architektur Hervorbringungen des Menschen sind, dies ums leichter. Und
da sie in der höchsten Form künstlerische Hervorbringungen sind,
provoziert das sozusagen den Vergleich. Der größte Unterschied
besteht wohl darin, dass Architektur nicht primär wahrgenommen, sondern
gebraucht wird. Erst die kulturelle Erfahrung, die distanzierte Betrachtung,
der ästhetische Konsum machen aus der Architektur eine Kunst. Konzeption
und Rezeption befinden sich in einem spiralförmigen Prozess. Wahrscheinlich
war die Konzeption (das Bauen) zuerst da und die Rezeption betraf Gebautes
und dann drehte sich die Spirale weiter. Das könnte man auch von
der Sprache behaupten: Zuerst war das Sprechen, daraus entwickelten sich
die Konstruktionen der Sprachen. Stimmt, nur kann die Sprache Architektur
beschreiben (die Kenntnis von Bauen vorausgesetzt), aber die Architektur
als räumliches Medium hat diese Eigenschaften nicht. Sie wird erst
"lesbar" über die Produktion von Elementen mit zeichenhaftem
Charakter, da diese Eigenschaften erst kulturell erworben werden müssen.
Architektur ist eine Welt, Sprache ist eine Funktion in der Welt. Dichtung
ist eine andere. Dichtung kann oder muss sich auf das kollektive Gedächtnis
einlassen, bleibt aber die Leistung eines/einer Einzelnen. Architektur
kann konzeptionell die Leistung eines Einzelnen sein, ihre Verwirklichung
ist aber ein kollektives Unternehmen. Insofern stehen Architektur und
Dichtung polar gegenüber. Die Überschneidungen, die Übergänge
kann man ausfindig machen, aber was bringt`s?
Zu Friedrich Achleitner, der uns durch viele Jahre verbundene Architekturtheoretiker, - kritiker und vor allem Chronist der österreichischen Architektur, verbindet wie kein Zweiter die Rollen des Literaten und Architekten. Widmete er sich anfangs der konkreten Poesie, so ist sein elementares Hauptwerk der Konkretheit des in Österreich im 20.Jahrhundert Gebauten gewidmet, das er in sorgfältiger Recherche-Arbeit zur Sprache brachte. Eine Sprache, in der er sich zurücknahm gegenüber der authentischen Interpretation des Werkes, das im Vordergrund steht. Dennoch, der Literat ist in seinen grundlegenden Essays immer wieder hervorgebrochen und scheint es heute wieder mehr denn je zu tun.
Gustave Flaubert hängt in seinem 1881 posthum erschienenen
Roman Bouvard et Pécuchet die Wäsche auf: "Tischtücher,
Laken, Handtücher hingen, mit Holzklammern an gespannten Leinen aufgehängt,
vertikal herab." Weil Flauberts besessener Genauigkeit nichts entgeht,
besteht der Mathematiker im Dichter darauf, dass das lose Flattern eine
geometrische Logik bekommt. Die Wäsche hängt "vertikal
herab".
Zwischen Ingenium und Ingenieur herrscht ein fröhliches Einverständnis,
das nicht nur im Fall des wirklichkeitsfanatischen Franzosen für
einen "Exzess an Präzision" sorgt, wie Roland Barthes sagt,
sondern das für die Moderne insgesamt konstitutiv ist. Wo die Welt
ihren metaphysischen Zauber verliert, tritt die Physik in ihr Recht. Wer
Romane schreibt, ist nicht länger ein Handlanger der göttlichen
Schöpfung, sondern ein Kreativer auf eigene Faust. Und man verrennt
sich, so wie Flaubert, auf eigene Rechnung. Man kann die Präzision
auch bis zum Aberwitz ihres Gegenteils treiben.
In der Moderne ist Schluss mit dem Hokuspokus höherer Ordnungen,
jetzt geht es um vergleichsweise weltliche, das heißt technische
Ordnungen und darum, dass Literatur "gemacht" ist. Literatur
ist Konstruktion und damit der Architektur höchst verwandt. Aus dem
Material des Sinns, der Grammatik, der Wörter, der Laute und der
Schrift konstruiert der Schriftsteller eine Welt. Er baut sie auf, in
dem er ihre Einzelteile zueinander in Beziehung setzt, sie gegeneinander
verschiebt und mit Gewichtungen versieht. Von Arno Holz' "Phantasus-Gedichten",
Stephane Mallarmés "Würfelwurf" und Guillaume Apollinaires
"Calligrammes" führt der Weg später zur konkreten
poesie, von der Eugen Gomringer, einer ihrer Gründerväter, sagt,
dass ihr "ein baugesetz" innewohnt: "wie in der architektur
gilt für die sichtbare form der konkreten dichtung, dass sie gleich
deren struktur ist."
Wer in diesem Sinn heute schreibt, ist ein "Weltarchitekt",
allerdings ohne sich deshalb am Pathos, das den Begriff "Welt"
in Kunstdingen umgeben kann, beteiligen zu müssen. Die Welt ist eben
- ganz nüchtern betrachtet - alles, was der Fall ist. Und wenn bei
Ernst Jandl "auf dem land" die "rininininininininDER brüllüllüllüllüllüllüllüllEN"
so ist das nicht weniger nachgebaute Natur als etwa in Gerhard Rühms
endlos-experimentellen Weiten. Rühm entwirft in seiner "abhandlung
über das weltall" gewissermassen eine Architektur des Universums,
er entwirft den Kosmos neu - jedoch "populärwissenschaftlich",
wie er einschränkend vorausschickt. Beeindruckend sind die weit ins
Graphische reichenden Baupläne zu diesem "text für einen
sprecher". Was mit einer ungefähren Beschreibung der Grösse
des (lautschriftlich so bezeichneten) "sonensüstems" beginnt,
setzt sich fort in physikalischen Bemerkungen zu den Temperaturen im All
und den Formen der Planeten. Es ist ein in der Folge kompliziertes Experiment,
das die Architektur des Weltalls und ihr Verglühen in der Sprache
noch einmal nachbaut. Sukzessive ersetzen im Text die in der deutschen
Sprache oft vorkommenden Phoneme die weniger häufigen. Am Ende bleibt
die Leere und das "e". Der Zustand der maximalen Entropie ist
erreicht. "die sprache ist", sagt Gerhard Rühm, "adäquat
der entwicklung des weltalls, gleichsam den wärmetod gestorben".
Mit diesem Teil des Werks von Gerhard Rühm ist Heimito von Doderer,
bei dem ja gewissermaßen das Bürgertum den Wärmetod stirbt,
nur in einem Punkt zu vergleichen. Seine Utopie des "totalen Romans"
fordert wie Rühms Welt-Modell ein Vorgehen streng nach Genauigkeit
und Plan. Umfassend sind Doderers Skizzen zur Architektur seiner großen
Romane "Die Strudelhofstiege" und "Die Dämonen".
Was bei Rühm ein generöser Makrokosmos ist, war bei Doderer
ein penibel entworfener Mikrokosmos. Das Werk beider, so wenig sie sich
sonst auch ähnlich sein mögen, ist bestimmt von einer Idee der
Statik, einem tragfähigen künstlerischen Konstrukt, das gewissermaßen
den Bauplan der Welt repräsentiert. Die Massen seiner dicken Romane
hat Doderer zu einer präzisen Topographie geordnet, die nicht nur
zufällig seinem eigenen Alsergrunder Lebensumfeld und einer ganz
bestimmten bürgerlichen Architektur entspricht. Natürlich war
Heimito von Doderer kein experimenteller Autor. Aber er war ein Avantgardist
dreidimensionaler Virtualität. Seine zeichnerischen Skizzen entwerfen
die urbanen Landschaften einer tausendseitigen Redseligkeit, die dem üppigen
Stil der geschilderten Bürgerhäuser so sehr entspricht wie andererseits
der Minimalismus der gar nicht so viel späteren konkreten poesie.
Eine solide Mauer aus Schweigen baut etwa Eugen Gomringer in seinem Gedicht
gleichen Titels. In fünf Zeilen ist das Wort "Schweigen"
typographisch fest übereinandergemauert. Nur in der Mitte bleibt
eine rätselhaft-beredte Leerstelle. Das Gedicht ist auch wie ein
ironischer Reflex auf Doderers ausufernde Romanarchitektur zu lesen.
Aus den virtuellen Möglichkeiten des computerunterstützten Designs
holt die Architektur ihre neuen Formen. Und in ebendieser Virtualität
blüht auch die Literatur in neuem grenzüberschreitendem Leben.
Wenn in der sogenannten experimentellen Poesie die Konstruktion und Destruktion
von Sinn in zahllosen Formen ausprobiert wurde, so kommt aus der Software
der Schritt ins architektonische Privileg des Dreidimensionalen. Architektur
und Literatur verschwistern sich in Jeffrey Shaws Installation "The
Legible City" (1988-89), in der man mit einem Fahrrad durch einen
virtuellen Stadtraum fährt. Und weil dabei die bestehende Architektur
(etwa Manhattans) durch Texte und Buchstaben ersetzt wird, ist man mittendrin
in einer Landschaft, in der alle umständlichen Mühen der Literatur,
mit einem "Exzess an Präzision" konkret zu werden, obsolet
sind. Wo die Literatur baut und die Architektur dichtet, dort will man
trotzdem nicht sein. In Manhattan, im All und im Alsergrund mögen
die künstlerischen Erwerbszweige Architektur und Literatur getrennt
bleiben. Und wenn schon vereint, dann nur durch den Satz des mathematischen
Philosophen Novalis: "Schönheit", sagt Novalis auf unvergleichlich
moderne Art, "ist ein Erzeugnis aus Vernunft und Calcul".
Paul Jandl ist Kunstkritiker, sprich Seiltänzer zwischen Kunst und Literatur. Als anregender Feuilleton - Korrespondent der Neuen Züricher Zeitung ist er dem österreichischen Leserkreis in der Institution Kaffeehaus - auch in Graz angemessen vertreten - bekannt. Dass er sich bereit erklärt hat, dem Bauen als "konkreter Poesie" literarisch näherzukommen, freut uns außerordentlich.