Johann
Gottfried Seume (1) machte sich 1870 von Leipzig auf den Weg,
um zu Fuß Sizilien zu erreichen. Lakonisch nannte er seine
zweifellos anstrengende Reise über 4000 km bis zurück
nach Leipzig "Spaziergang nach Syrakus". Auf seinem
Weg über Prag und Wien stattete er auch Graz einen Besuch
ab, den er in lebendigen Worten beschrieb, wie er auch den anderen
Städten in ihrer Alltäglichkeit seine Aufmerksamkeit
schenkte. Seume war mehr an den Stationen seiner Reise als am
Ziel interessiert. Er ließ sich führen vom Schauen
und Finden, für das sich sein vergleichendes Auge schärfte.
In einem Text "Zu Fuß. Literarische Wanderungen"
setzt sich Georg Pichler (2) mit den Antrieben und Umständen
dieser Reise auseinander : "Die Fußreise aber bestimmte
nicht nur die soziale Form der Fortbewegung, sondern auch die
Perspektive: wer zu Fuß geht, sieht nicht nur `anthropologisch
und kosmisch` mehr, sondern es erhalten für ihn auch andere
Dinge Wichtigkeit". Seume setzte sich dem Vorwurfs unstandesgemäßen
Verhaltens aus, da nur Personen niedrigen Standes und ohne festen
Wohnsitz zu Fuß gingen. Reisen nach Italien waren bei
Vornehmen, Künstlern und Wissenschaftlern beliebt, aber
nur mit Kutsche. Seume praktizierte in provokanter Weise die
Langsamkeit und proklamierte: "Ich halte den Gang für
das Ehrenvollste und Selbständigste im Manne, und ich bin
der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr
ginge". Im erforschenden Abtasten des Weges mit allen ihm
begegnenden Hindernissen, die auch zu Umwegen zwangen, hatte
Seume eine neue Ebene der Raumerfahrung gewonnen.
Machen wir uns bewusst, dass sich ein Weg aus Wegstrecken zusammensetzt,
die für sich betrachtet werden können und charakteristische
Erlebnisgehalte vermitteln. Immer wieder sind Grenzen zu überschreiten,
Unstetigkeitsstellen im Raum, an denen die Erfahrung des gegangenen
Weges in die Erwartung des noch nicht bewältigten Weges
umschlägt. Wie Kinder die nicht als Ganzes erfassbare Zeit
in Ereignisse des Tages und das Ruhen der Nacht zerlegen, empfinden
wir das Überschreiten jeder Weggrenze als "Nacht",
die einen Tag abschließt und den nächsten einleitet.
Damit sind auch Ängste verbunden, denn Grenzerlebnisse
führen an die Randzonen unserer Existenz, Geburt und Tod.
In der Ambivalenz der Grenzerfahrung, wirksam auch als formbildendes
Element der Grenzüberschreitung, wird das "Umkehrprinzip"
deutlich, das der Freiheit des "Weg-Gehens" aus gesichertem
Bestand entspricht.
Mit den Wegphasen befasst sich in systematischer Weise der Schweizer
Arzt und Psychotherapeut Fred Fischer (3) in seinem Werk "Der
animale Weg". Er sieht Entsprechungen im Wegverhalten von
Mensch und Tier, indem ein Wegsubjekt auf charakteristische
Weise vom Raum Besitz ergreift: "Alles, was die Beziehung
zum Raume vom Subjekt aus distanzmäßig ändert,
vollzieht sich auf Wegen. Unter bestimmten Umständen hinterlässt
die Ortsveränderung des Subjekts Spuren, die zusätzlich
durch Bauten und.....fixiert werden können. Die fixierten
Wege haben selbst konkrete, oft artspezifische Raumdimensionen,
wobei die Begrenzungen sichtbar oder unsichtbar sein können......."
Er schreibt, dass jeder Weg ein durch zahlreiche Faktoren streng
determiniertes schicksalhaftes Ereignis ist. Es kann durch kleinste
Bewegungsimpulse verändert werden, einmal als Beschleunigung
des Weges oder durch Hemmnis des Weges. Durch Aufbrechen und
Rückkehr werden die Orte in eine Weghierarchie eingebunden,
in der Raumgeschehen und Zeitgeschehen sich anschaulich verbinden.
"Eingespannt zwischen dem Ausgangsort als Heim und Ankunftsort
als Ziel können wir ein zweifaches Weggefälle unterscheiden:
das Heimgefälle und das Zielgefälle. Dieser Janusaspekt
des Weges beherrscht das Wegverhalten bis ins Wegelement, als
welches wir den Schritt......, allgemein die Einheit innerhalb
des Bewegungsablaufes von Widerstand zu Widerstand, von Halt
zu Halt definieren können". Entlang der Wegstrecke
findet eine ununterbrochene Umpolung zwischen Heimgefälle
und Zielgefälle statt, da jeder Ort, der verlassen wird,
Heimcharakter und jeder Ort, der angestrebt wird, Zielcharakter
hat. Auf der allgemeinsten Ebene ist jeder Weg ein Teil des
Lebensweges, auf dem wir durch unsere Gedanken und Träume
geleitet werden. Alle unsere Verhaltensweisen sind Wegprozesse,
die auf Ziele gerichtet werden, seien sie selbst gewählt
oder vorgegeben. Sie fügen sich zu einem Ganzen.
Fischer unterscheidet 10 Wegphasen, die in ihrer Eigenart und
in Bezug auf das Erfassen des Raumes, vorzugsweise als Entwurfsprozess,
beschrieben werden sollen. top
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Foto: Archiv Werkgruppe
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Foto: Archiv Werkgruppe
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Foto: Archiv Werkgruppe
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(1)
Johann Gottfried Seume, "Spaziergang nach Syrakus",
Hrsg. U. Komm. Albert Meier, 5. überarb. Auflage,
dtv., München 1997 |
(2)
Georg Pichler, "Zu Fuß. Literarische
Wanderungen", in: 1945 1989-2000: Momentos
de lengua, literaturas y culturas alemanas. Actas
de la X Semana de Estudios Germanicos. Madrid: Universidad
Complutense 2003, 219 - 229 |
(3)
Fred Fischer, "Der animale Weg"; Wegphasen
und Weghindernisse, Das Bild der Landschaft, Verlag
für Architektur, Artemis, Zürich 1972 |
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