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GRAZ
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WEGHAFTES. ARCHITEKTUR
UND LITERATUR
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3 .4 / DER WEG IN DER ARCHITEKTUR / auf
konzeptueller Spurensuche
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3.4.1 / RAUM UND GEGENRAUM
im architektonischen Arbeitsfeld /
Tanzend umgreift der Mensch den Raum. In der
aufrechten Haltung seines Körpers erstreckt er sich in den
Raum, im Kreisen seiner Gliedmaßen verleibt er sich den Gegenraum,
seine Umwelt ein. Im Wechselspiel beider Aspekte gelangt er in seinen
Bewegungen zu Ausdruck.
J. W. Goethe erkannte dieses Gegenspiel in den beiden, einander
ergänzenden Strebungen in der Pflanze, die als Muster der "Urpflanze"
in allem pflanzlichen Erscheinen hervortritt. Die in den Raum herauswachsenden
Stengel vereinen sich mit den sich ausbreitenden Blättern,
die das Licht einfangen. In ihrer Synthese finden diese beiden Tendenzen
im Wachsen zum Urtypus der Spirale, in der sich Strecken und Kreisen
verbinden. Aus der Mitte entstehend, dehnt sie sich über die
Fläche in den Raum aus.
"La spirale, c`est la vie", sagte Teilhard de Chardin.
Archimedes (ca. 287 - 212 v.Chr.) hat in seiner Abhandlung `Über
Spiralen` zwei gegensätzliche Bewegungen, die in Gleichzeitigkeit
die Figur der Spirale hervorbringen, beschrieben. Diese beiden Bewegungen
sind
.) die um einen Mittelpunkt in Kreisform drehende, rotierende Bewegung
und
.) eine von einem Mittelpunkt aus wegstrebende, zentripetale und
geradlinige Bewegung.
Die von Goethe erkannte spiralige Entfaltungstendenz der Pflanzen
haben Adams, Whicher in ihrem Werk `Die Pflanze in Raum und Gegenraum
- Elemente einer neuen Morphologie` (1) an einer Vielzahl von Pflanzen,
von Blumen über Sträucher bis zu Bäumen, nachgewiesen.
Darüber hinaus aber haben sie, vom Geist der Anthrosophie Rudolf
Steiners getragen, die Entfaltungsgesten der Pflanzen als universelles
Prinzip aufgefasst, das von der "Polarität" alles
Lebendigen getragen ist. Diese Polarität, die sich in den Kosmos
erweitert, beinhaltet die einem inneren Gesetz entsprechende Verwandlung
einer Figur in die andere. Vom Wachsen bis zum Vergehen ist dieser
Verwandlungsprozess, sie sprechen von der "Metamorphose"
der lebendigen Welt, ideell gegenwärtig und hebt die Zeit auf.
Eine neue Vorstellung des permanenten Übergangs tritt an die
Stelle abgegrenzter Figuren, die aus unserem überwiegend verräumlichten
Denken hervorgehen. Die abendländische Geschichte ist von ihm
geprägt, worauf Jean Gebser eindringlich hingewiesen hat.
Die Geometrisierung der Welt, mit der euclidischen Geometrie und
den `Platonischen Körpern` als Grundelementen der Welt beginnend,
bedarf heute einer Umorientierung. Noch hat die klassische Moderne,
Le Corbusier und Mies van der Rohe, gerade in den reinen geometrischen
Körpern die ideelle Grundlage der modernen Architektur gesehen.
Seit Entdeckung der `Projektiven Geometrie` durch Poncelet 1814
und Hilbert 1913 können wir nicht anders, als die einer ständigen
Verwandlung unterliegenden Grundelemente des Punktes, der Linie,
der Fläche und des Körpers als die elementaren Erscheinungsweisen
unserer räumlichen Welt erkennen (2). Allein aus ihrer Transformation
geht unsere visuell erfassbare Welt in ihrer Vielgestaltigkeit hervor.
Schließlich hat die von Benoit Mandelbrot (3) um 1980 entwickelte
"Fraktale Geometrie" auf der Grundlage der durch die elektronische
Datenverarbeitung ermöglichten Darstellungsmethoden in exakter,
zugleich ästhetisch anspruchsvoller Weise anschaulich gemacht,
dass die Erscheinungen unserer sichtbaren Welt nur durch fraktale,
gleitende Dimensionen (in Brüchen ausgedrückt) adäquat
interpretiert werden können. Ihre Figuren sind dem Reich der
natürlichen Bewegungen, von Wind, Wasser und Wachstumsprozessen
entnommen. Mit ihrer ins Unendliche ausdehnbaren Vielfalt hat sie
die unerschöpfliche Kreativität von Natur und Kunst als
Gemeinsames nachgewiesen.
Der Architektur stellt sich die Aufgabe, in Übereinstimmung
mit neuesten Erfahrungen in Wissenschaft und Kunst ihre theoretische
Fundierung neu zu bestimmen, die in der gleichzeitigen Durchdringung
von Raum und Gegenraum liegt.
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"Tanzende",
Anna Rogler-Kammerer
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aus: Hugo Kükelhaus, Versuchsfeld zur Organerfahrung,
1982
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Blattprimordien am Wachstumsscheitel
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Fritz Hartlauer, Urzellensystem 1975
TU Graz Bibliothek
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Fraktale, aus Fritz Hartlauer, NG, Peter Weibel, 1995
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(1)
Georg Adams, Oliver Whicher, "Die Pflanze in Raum und Gegenraum,
Elemente einer neuen Morphologie", Verlag Freies Geistesleben,
Stuttgart 1960 |
(2) Egmont Colerus, "Vom Punkt
zur vierten Dimension", Rowohllt Taschenbuch Verlag GmbH.,
Reinbeck bei Hamburg, 1969
(3) Benoit B. Mandelbrot, "Die fraktale Geometrie der Natur",
Birkhäuser Verlag Basel-Boston, 1987 |
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