WERKGRUPPE
GRAZ
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WEGHAFTES. ARCHITEKTUR
UND LITERATUR
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3 .4 / DER WEG IN DER ARCHITEKTUR / auf
konzeptueller Spurensuche
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WEG UND ORT - die Erschließung des Raumes
3.4.5 / "DAS UMKEHRPRINZIP" /
Die Annäherung an den gelebten Raum /
Entweder wir befinden uns auf dem Weg oder wir befinden uns an
einem Ort. Von unserem Verständnis her schließen sich
Weg und Ort offenkundig aus. "Am Weg sein" heißt
sich bewegen, "am Ort sich aufzuhalten" bedeutet in
Ruhe zu sein. Eine beabsichtigte Erkundung einer fremden Stadt
können wir uns nur als Bewegung vorstellen, indem wir den
vorgezeichneten Wegen am Stadtplan folgen. Andererseits fassen
wir die Erwartung der Erreichung eines Berggipfels nach mühevollem
Aufstieg als Ruheort auf, der mit einem Wimpel markiert wird.
Mit Schlüssen, die die Welt ertasten, suchen wir nach Eindeutigkeiten,
wir wollen etwas "Gültiges" erfassen.
Gaudenz Domenig (1), ein Schweizer Stipendiat in Japan, befasste
sich mit den Grundzügen einer archaischen Raumordnung und
versuchte eine Analyse der Bewegung im architektonischen Raum.
In begrifflicher Klärung der Unvereinbarkeit von Weg und
Ort im logischen Raum kommt er zum Schluss zweier möglicher
Haltungen gegenüber dem Problem: entweder der Unmöglichkeit
der Bewegung für das Denken oder der Unangemessenheit des
Denkens hinsichtlich des Erfassens der Bewegung. Die erste Haltung
reflektieren die tiefsinnigen Paradoxien des griechischen Philosophen
Zenon wie "Was sich bewegt, bewegt sich weder an der Stelle,
wo es ist, noch an der, wo es nicht ist." Der Satz besagt,
dass Bewegung für das logische Denken nicht gegeben ist.
Er unterstreicht die Auffassung der Wissenschaft, dass es ihre
Aufgabe ist, alles messbar zu machen, dh. Veränderungen an
Ruhezuständen zu beschreiben wie das selbstverständliche
Ablesen der Skala eines Thermometers oder der Blick auf die Uhr.
Dagegen eröffnen die neuesten Erkenntnisse der Quantenphysik,
dass Bewegung im Kosmos nicht messbar ist, da alle Skalierungen
selbst der Bewegung unterworfen sind. Ein bisher vorherrschendes
Wissenschaftsbild wird in Frage gestellt.
Am Weg sein
Sich bewegen
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Ausschluss
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Am Ort sein
Ruhen
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Und dennoch, wir finden in der Geistesgeschichte,
in der abendländischen Mystik und vor allem im Denken des
fernen Ostens, ein "meta-logisches" Raumverständnis
vor. Im Geiste des Taoismus (Tao = Weg) sprechen die Worte Lao-Tse`s
und belehren uns:
"Dreißig Speichen teilen die Nabe;
Das Loch in der Mitte macht es brauchbar.
Forme Lehm zu einem Gefäß;
Der innere Raum macht es brauchbar.
Bricht Türen und Fenster in ein Zimmer;
Die Öffnungen machen es brauchbar.
Man zieht Gewinn aus dem, was da ist;
Man zieht Nutzen aus dem, was nicht da ist."
(Spruch 11 im Tao Te King)
Darin wird dem Gewinn, der gedanklich dem Seienden zukommt ("was
da ist"), die Brauchbarkeit des Nicht-Seienden (was nicht
da ist), eben Fließenden, gegenübergestellt. Eine tiefere
Schicht des Bewusstseins wird angesprochen. Unserem Erleben allein
erschließt sich die Dimension, die der "Leere"
eine ebensolche Bedeutung zumisst wie der Fülle, dem materiellen
Dasein. Wenn wir die Leere durch den "Weg" ersetzen
und die Fülle durch den "Ort", erscheinen uns Weg
und Ort in neuer Beziehung, schließen sich als Ganzheitserfahrung
nicht mehr aus. Die Architektur ist angesprochen. Das "Weghafte"
unserer Existenz, das Grenzen sprengt und uns fallen lässt
in den Raum des Staunens, kehrt den folgerichtigen Schluss um.
Ein Ort erscheint nur am Horizont, der Grenze. Doch wir können
ihn nicht greifen. Es wirft uns im Moment des Erreichens des Ortes
an den Anfang zurück, zwingt uns, immer neu zu beginnen -
ein Umkehrprinzip blitzt auf. Lässt das beschriebene Blatt
zum ursprünglichen leeren Blatt werden. Weckt beim Betrachten
des gebauten Raumes die Sehnsucht nach dem ursprünglichen
Raum, dem die Leere nicht abhanden gekommen ist. Was aber ist
die Voraussetzung, um diesen glücklichen Moment erleben zu
können?
Kehren wir nochmals zurück zur Domenig`schen Raumanalyse,
die auf die Darstellung einer Annäherung an einen Heiligen
Schrein, den Ise-Schrein, in Japan zielt. Die Raumgestaltung auf
dem Weg einer zunehmenden Heiligung des Ortes lässt diesen
in der Erwartung näher rücken, begegnet dem Pilger aber
zugleich mit einer Reihe von Hindernissen, die zu bewältigen
sind. Der Überwindung jedes Hindernisses, die dem glücklichen
Ankommen an einem provisorischen Ort gleicht, entspricht die Ungewissheit
über den weiteren Weg. Es kommt zu einer permanenten Umpolung.
Beim Ise-Schrein strukturieren Torii, Brücken und Waldstücke
den Weg auf das Heiligtum und lassen den sich Annähernden
relative Weg- und Ortverluste erleben, die in Momenten des Staunens
begründet sind. Uns erwächst eine Erkenntnis. Einem
physiologischen Raumerleben, wie es der lebendige Mensch hat,
kann allein eine Komplentarität von Weg und Ort gerecht werden,
die einem ausgeglichenen Bewegungs- und Ruhebedürfnis des
Menschen entspricht (der ideale "Ort - Wegraum"). Reiner
Ort- und reiner Wegraum sind tödlich. Daraus hat der Autor
ein Prinzip archaischer Raumgestaltung abgeleitet, das er das
Prinzip der "progressiven doppelten Verneinung" nennt.
Er schreibt: "Wo immer im Raum Unstetigkeitsstellen auftreten
und auf ein Ziel hin überschritten werden, muss, wenn auch
noch so unmerklich, ein Überraschungseffekt resultieren,
mit dem eine `innere Bewegung`, die Erschließung einer anderen
Ebene des Erlebens verbunden ist." Auf meta-logischer Ebene
wird daraus ein Erschließungsprinzip angesprochen, für
das Gaudenz Domenig Allgemeingültigkeit beansprucht: "
Diese Augenblicke der Überraschung sind die Augenblicke der
Ankunft, des mystischen Überganges vom Weg zum Ort, wie umgekehrt
die Momente der unmittelbar folgenden Ernüchterung die Momente
des erneuten Weg-Gehens - im doppelten Sinn des Wortes - sind."
Vermag die Architektur in ihren gelungenen Werken diesem Raumerleben
Bestätigung verschaffen? Ist sie ein Balanceakt einer Ort
- Weg - Kunst, die nur wie der Blitz aufleuchtet, der seine Zeichnung
an den Himmel wirft?
Le Corbusiers Wege in der Villa La Roche-Jeanneret, Paris 1923,
realisieren das Wegerlebnis auf ebendiese Weise. Elisabeth Blum
(2) erkennt in ihnen ein "Prinzip der verlangsamten Wahrnehmung",
das die Corbu`sche "promenade architecturale" auszeichnet
und für den Betrachter und Begeher (Corbusieur spricht vom
`Ergreifen `des Raumes) zu einer mehrdeutigen Wegerfahrung macht,
die allein dem Erfassen des ästhetischen Objekts gerecht
wird. Es erfüllt den generellen Anspruch an die Kunst, nicht
allein dem Menschen zu dienen (einen Zweck zu erfüllen),
sondern ihn anzuleiten, sehen zu lernen (ergriffen zu sein). Lassen
wir uns von der Autorin führen: "Erst das Abschreiten
der `promenade architecturale`, die Weg-Begehung, ermöglicht
die Summe mehrerer Lesearten des Objekts. Das Spannungsverhältnis,
das die Mischung zwischen Bekanntem und Unbekanntem erzeugt, führt
Betrachter oder Benutzer zu einer intensiveren Form der Auseinandersetzung.
Prinzipiell kann es sich bei dem Objekt um ein Werk der Musik,
der Malerei, der Architektur, der Dichtkunst usw. handeln. Jede
dieser Künste hat ihre eigenen Mittel, diese Verfremdungseffekte
herbeizuführen." Hier schließt sich der Kreis
zu den Unstetigkeitszonen oder "Schwellen" auf dem Weg
zum Ise-Schrein, die den Pilger bereit machen sollen auf das Ankommen
am Heiligtum. Kann die Kunst auch diese Heiligung hervorbringen,
wenn sie dem Menschen Wunder des Sehens , Hörens und Tastens
erschliesst?
Dazu muss er bei Le Corbusieur die `promenade architecturale`
erst wachen Sinnes gehen. Sie soll an wenigen Stationen am Haus
La Roche-Jeanneret ins Bewußtsein gerückt werden. Sie
beginnt bereits bei der Annäherung, wenn das "Spiel
mit der gestörten Symmetrie" an der Fassade erfahren
wird. Ist es ein Haus oder sind es zwei Häuser? Vor dem Eintreten
ziehen unterschiedlich proportionierte Flächen zugleich an
und stoßen ab, sprechen das empfindliche Wechselverhältnis
von Öffentlichkeit und Privatheit an. Im Eintreten unter
den ausladendenden Baukörper der Galerie des Hauses La Roche
und im Durchschreiten des engen Einganges erfolgt die Vorbereitung
auf das unmittelbare Erlebnis der Weite und Helle, wenn die mehrgeschossige
Halle betreten wird. Diese erscheint in ihrer Plastizität
geradezu wieder als Außenraum, polt das Wegbeschreiten in
ein Platzgefühl um, indem die Augen rundum geführt werden.
Ist man schon im Zentrum des Hauses, oder entzieht sich dieses
neuerlich ? Die strahlend weiße Sichtwand an der Rückseite
führt weiter, schmale abgewinkelte Wegführung über
Treppen und farbige Wandteile erzeugen den Sog der Neugierde,
doch mehr zu erkunden, vielleicht das "Heiligtum" des
Hauses. Und in der Tat ist dieses die Galerie mit Bildern, den
Weggefährten metaphysischer Erlebnisräume. Und selbst
die Galerie verspricht noch eine neue Dimension, das Heraufschreiten
der gekrümmten Rampe an der Längswand, von Oberlichten
geführt, zur Bibliothek, der Reliquie des gesammelten Wissens
der Menschheit. Identität wird gefunden, aber es ist nicht
die logische einer zweckgerichteten Ableitung aus Funktionen,
sondern der kompositorischen der Harmonie der Gegensätze,
die den Weg zum Wegerlebnis werden ließen.
Im Begehen der Schule Kapfenberg - Walfersam 1967 soll dieses
Wegphänomen an einem Projekt der Werkgruppe als Versuch zum
tieferen Verständnis deutlich gemacht werden. Von einem Vorplatz
führt der Weg zunächst über eine ein halbes Geschoss
überwindende Treppe zum Eingang, womit der Erwartung widersprochen
wird, die Schule direkt auf Straßenniveau betreten zu können.
Der erhöhte kleine Vorplatz erscheint dann als teilweise
bepflanzte Fläche (Kräutergarten), die die Natur ins
Haus hereinzieht. Umfangen von einem ausladenden, schützenden
Vordach betritt man die längsgerichtete Eingangshalle, von
der die Weiterführung in die beiden versetzt angeordneten
Schuleinheiten der Mädchen- und Knabenvolksschule möglich
ist. In diese Halle waltet die `Leere`, ein Einatmen vor dem Eintreten
in die Klassentrakte durch eine verengende Öffnung. Der Eintritt
in diese Klassentrakte vermittelt wiederum einen Halleneindruck,
jedoch ganz unterschiedlicher Art. Um ein zentrales Treppenauge,
das das Licht vom Dachgeschoss bis in das Untergeschoss durchfluten
lässt, wird man vor die Entscheidung gestellt, auf- oder
absteigen zu wollen. Die räumliche Spirale des Treppenhauses,
das als leichte Stahlbrücke die viertelgeschossig versetzten
Klasseneinheiten verbindet, offenbart einen einzigen Großraum,
der jedoch mit jedem Schritt anders erscheint und nur im Begehen
erfasst werden kann. Die aus den aus den achteckigen Klasseneinheiten
mit Garderobe und Lehrmittelraum heraustretenden erweiterten Unterrichtsbereiche
springen in Treppenpodeste um, die als Auflager der Treppenstufen
dienen. Der gesamte Raum wird in den Sog von unten nach oben wie
von oben nach untern einbezogen, wie Aus- und Einatmen einander
bedingen. Das Erlebnis der Schule soll sich über ihre Funktion
als Bildungsstätte erheben.
Weg und Ort enthüllen in diesem Entwurf ein "Umkehrprinzip",
das jeden Ort im Haus weghaft, jeden Weg orthaft werden lässt.
Dieses kennzeichnet eine neue Typologie im Schulbau, die weder
den Merkmalen einer Gangschule noch denen einer Hallenschule entspricht.
Die Komplexität der räumlichen Beziehung spiegelt, wie
es Lehrer und Schüler bestätigten, eine neue Form des
auf einer intensiven Lehrer- Schülerbeziehung fußenden
Unterrichts, der in seinem kommunikativen Charakter nach unserer
Überzeugung derjenige der Zukunft sein wird.
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Der Philosoph Zenon
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Japanisches Torii |

Le Corbusier
Villa La Roche-Jeanneret, Paris 1923
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Schule Kapfenberg-Walfersam
Fotos: Eckhart Schuster
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(1) Gaudenz
Domenig, "Weg - Ort - Raum", Versuch einer Analyse
der Bewegung im architektonischen Raum, in BAUWELT, 1968 |
(2) Elisabeth
Blum, "Le Corbusiers Wege", Wie das Zauberwerk in
Gang gesetzt wird, Bauwelt Fundamente 73, Hrsg. Ulrich Conrads
u. Peter Neitzke, Birkhäuser / Vieweg - Verlag 1991 |
LINK
/ 3.2 / Werk Gruppe Graz - Wege, Räume, Gedanken/ 3.2.14
/ Schule Kapfenberg - Walfersam /
LINK
/ 3.3 / Wegphase7 - Die Umkehr / AHS Kapfenberg |
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